Müll zu Gold?
Über die schmutzige Materialität unserer Hightechkultur
Yvonne Volkart
Heft 1/16
Die Frage nach der Materialität ist eine der Grundfragen der Kunst.
Immer geht es dabei auch um das Rauschen, die Eigendynamik des
Mediums, um Sinn als körperlich-materielles Ereignis jenseits purer
Information. Mit dem Ankommen des Anthropozän-Diskurses in Kunst und
Geisteswissenschaften vor ein paar Jahren hat sich das Denken über
Materialität zugespitzt. Mehrere Ausstellungen, Konferenzen,
Forschungsprojekte und Publikationen haben sich in jüngster Zeit dem
Menschgemachten unserer Welt gewidmet. Während das
Anthropozän-Projekt am Berliner HKW in Berlin, sein Nachfolgeprojekt
Technosphere, The Anthropocene Monument in les Abattoirs, Toulouse,
oder Research on the Anthropocene an der Universität Aarhus die
Begrifflichkeit ins Zentrum stellten, fragten Ausstellungen wie Hall
of Half-Life (steirischer herbst 2015), the afterglow (transmediale
2014) oder nature after nature (Fridericianum Kassel 2014) nach
unseren Hinterlassenschaften. Und immer mehr geht es einfach um
Mineralien, etwa Salz auf der Istanbul Biennale 2015, Seltene Erden
in der Ausstellung Rare Earth bei TBA21 Wien oder Phosphat bei
Technosphere. Am grundlegendsten erscheinen die Projekte, wenn sie
die „technologische Bedingung“ unserer Umwelt, unsere
„naturecultures“ oder „medianatures“ zur Disposition stellen.1
Die Hyperobjekte kontaktieren uns
Beim Besuch der Ausstellung BodenSchätzeWerte – Unser Umgang mit
Rohstoffen an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich
ergab sich ein aufschlussreiches Gespräch mit der Aufsicht. Sie
hatte sich anerboten, eine Führung zu machen. Die Szenografie und
Thematik waren betont sachlich, es ging um Chancen und Probleme der
aktuellen Lage. Dann, beim Thema mögliche Ressourcen aus dem Weltall
bzw. dem Handy angelangt, meinte die Führerin nebenbei, dass das
ganze Gerede über zu Ende gehende Rohstoffe nicht ganz stimme. Sie
besuche eine Vorlesung, in der deutlich gemacht werde, dass unser
Planet ausreichende Ressourcen hätte. Der Zugang sei eben manchmal
schwierig und der Abbau lohnte sich finanziell (noch) nicht. Aber
die Geschichte hätte gezeigt, dass der Mensch immer wieder Vorkommen
entdeckt und innovative Abbaumethoden entwickelt hätte. Dem hielt
ich entgegen, dass die Geschichte auch gezeigt hätte, dass der
Mensch in rund 150 Jahren dezimiert hätte, was sich zuvor über
Jahrmillionen sedimentiert hatte. Vielleicht könnten wir noch kurz
so wie bisher weitermachen, aber was dann? Darauf meinte sie, dann
stellt man das eben künstlich her. Es ist doch alles einfach Chemie.
Aufschlussreich war das Gespräch insofern, als Materialitäten
tatsächlich auch eine Frage der Chemie sind. Natürlich stehen dabei
neuartige Verbindungen im Mittelpunkt, aber wie die Geschichte
zeigt, ging es immer auch um die Partialisierung und Segmentierung
jener Mischungen, die auf der Erde bereits vorhanden sind. Die ganze
Erdkruste ist Chemie, darstellbar als Periodentabelle der Elemente.
Und vor der Chemie, da war die Alchemie. Doch der Stein der Weisen
oder das Perpetuum mobile sind bis heute nicht erfunden worden.
Trotz der Erfindung neuer Materialitäten ist es unmöglich, aus Blei
Gold zu machen oder aus wenig viel. Nicht einmal die Energie der
Sonne lässt sich ohne Aufwand anzapfen, auch wenn man mit dem
großflächigen Umstieg auf Sonnenenergie viele Energieprobleme lösen
würde. Warum muss man den Meeresboden unter der ehemaligen Antarktis
umpflügen, wenn Erdöl künstlich zu haben ist? Künstlich heißt
letztlich: auf der Basis raffinierter Rohstoffe. Die Erde selbst ist
der Rohstoff, den wir brauchen, um irgendwann einmal ins Weltall
abzuhauen. Und Chemie, Geologie oder Physik sind jene Wissenschaften
von der Erde, die entstanden sind, als man begann, sie im großen
Stil auszubeuten. So gesehen ist das „Künstliche“ auch „Natur“.
Während sich die nicht unkritische Studentin an die Versprechen der
technokratischen Verdrängungsideologie krallt, spüren andere die
dunklen und widerständigen Seiten der Materie. Denn die Materie und
die Körper erleben trotz der Digitalisierung eine Intensivierung:
Permanent wird der Körper über Medientechnologien affiziert, steht
er in Bereitschaft für die eine Nachricht. Alltägliche Handlungen
wie Kommunikation, Arbeiten oder Einkaufen werden über scheinbar
immaterielle Medien verrichtet, die aus Mineralien, Plastik und
Energie bestehen und einen gewaltigen Verschleiß generieren.2 Weil
nichts ohne Ressourcen und deren Zirkulation zu haben ist. Und diese
Körper, diese Gemische und Reste drängen sich uns auf, lassen uns
nicht in Ruhe. „Intimität wird das neue Schlüsselwort werden“,
schreibt Timothy Morton, „es wird kein ‚weg‘ geben, wohin wir etwas
werfen können.“3 Plastik etwa war für Roland Barthes in den
1950er-Jahren noch ein Mythos, „weniger eine Substanz als vielmehr
die Idee ihrer endlosen Umwandlung“4. Dies war ganz im Sinne des
Linguistic Turn und des Strukturalismus, als man sich von der
überkommenen Konzentration auf die Substanz ab- und der Frage nach
den Bedeutungen zuwandte. „Diese Spur einer Bewegung“ (Barthes),
sprich Plastik, sammelt sich heute nicht nur in Fischen oder Vögeln
oder im Great Pacific Garbage Patch (wo man ihn ja mit innovativer
Technologie absaugen könnte, soeben sind erste vielversprechende
Versuche dazu gemacht worden). Nein, Plastik kehrt auch zu seinen
Erfindern zurück. Schon wurde Plastik im menschlichen Körper
nachgewiesen oder lässt sich zeigen, dass der Sandstrand von Hawaii
zu 40 Prozent aus Plastikkörnern besteht. Plastikspur,
Plastikbewegung: Diese „neue“ Materialität ist also doch „Substanz“,
aber sie ist auch „Mythos“, denn was, wenn nicht die ewige
Wiederkehr in Variationen zeichnet einen Mythos aus? „Das stellt die
höchste philosophische Ironie dar. Gerade in jenem Moment, in dem
wir glaubten, wir hätten uns von den abgestandenen, statischen,
aristotelischen Objekten endlich befreit und sie durch Systeme,
Prozesse, Abläufe und Milieus ersetzt, da kommen sie auch schon
zurück, kräftiger und größer denn je.“5 Was Timothy Morton hier
beschreibt, nennt er „Hyperobjekte“ – „Dinge, die wir selbst
geschaffen haben […] Hyperobjekte sind reale Dinge, die, in Zeit und
Raum verteilt, massiv auftreten.“6 Besonders große oder dauerhafte
Effekte wie die Klimaerwärmung oder atomare Strahlung definiert er
als „Objekte“, um deren Hartnäckigkeit, Dynamik und
Verschiedenartigkeit gegenüber dem Menschen, der sie mit verursacht
hat, begrifflich herauszustreichen.
Möglicherweise ginge es auch ohne diesen objektorientierten Ansatz,
um Überlegungen über die sozialen Implikationen und
Handlungsoptionen in einer komplizierten und
heruntergewirtschafteten Welt der Widergängermaterialien
anzustellen. Aber die rhetorische Reduktion des
Dynamisch-Komplizierten auf ein Ding, das konventionell unterhalb
der Hierarchie des Menschlichen angesiedelt und mit der Warenwelt
verknüpft ist, übt seinen Reiz auf Morton aus. Auch an anderer
Stelle arbeitet er gerne mit Neologismen. Tiere nennt er „strange
strangers“, um der Falle hierarchischer Dualismen zu entgehen.
Dasselbe gilt für den Begriff „Natur“, den er zugunsten des
„mannigfaltigen Vielen“ meidet. Denn „Natur“ wird Morton zufolge in
erster Linie von jenen, die „Normalität“ erzwingen wollen, verwendet
und nützt beispielsweise dem Kampf für Biodiversität nicht.
Wenn wir anerkennen, dass Künstlichkeit „Natur“ ist, dass die
„Materie vibriert“ oder dass elektronische Medien „Geologie“ sind,7
dann brauchen wir Natur als Gegenbegriff wirklich nicht mehr.
Solange wir aber meinen, dass die Natur ein Bedienungsladen für die
Menschen ist, kann es durchaus Sinn machen, den Begriff strategisch
einzusetzen. Donna Haraway hat das so formuliert: Wir können die
Natur nicht nicht denken, aber wir müssen ein anderes Verhältnis
dazu entwickeln. Eines, das nicht auf Ausbeutung gestützt ist.
Während sie auf die „Companion Species“ setzt, spricht Morton von
der „radikalen Koexistenz“. Solche philosophischen Vorschläge über
den Einbezug nicht-humaner Entitäten kontern einer sich
breitmachenden Lähmung. Der Anthropozän-Diskurs stützt sich nämlich
stark auf die Annahme, dass das Ökosystem global dermaßen aus dem
Ruder gelaufen ist, dass lokale Interventionen oder individuelle
Verhaltensänderungen nichts mehr nützen, außer vielleicht ein paar
technokratischen Großlösungen.
Was heißt etwas wie Koexistenz nun bezogen auf die hier aufgeworfene
Frage nach den neuen Materialitäten? Meint dies die Materialien und
Diskurse jenseits von Hierarchien und Ausbeutungsverhältnissen? Oder
sind es im Gegenteil gerade solche, die diese Verhältnisse sichtbar
machen? Die die aktuellen Widersprüche, etwa zwischen Virtualität
und Materialität, Auflösung und Reterritorialisierung besonders
radikal auf den Punkt bringen. Und was ist mit den neuartigen
Plastikinseln und -sedimenten, mit Luft- und Wassergemischen und den
auftauenden Einzellern? Sie alle sind neue Materialitäten, Cyborgs,
Mischungen von Natur und Technik, artefaktische Gebilde zwischen
Materialität und Diskurs, Verdichtungen des Kapitalismus und dessen
Brechungen. Es sind Hyperobjekte, die uns, so Morton,
„kontaktieren“:8 Ihre unmenschliche Langlebigkeit kündet von der
Möglichkeit, dass das menschliche Zeitalter irgendwann zu Ende geht.
Drecksgeschichten
Ein Projekt, das die Problematik des „digital rubbish“9 bzw. „den
kapitalistischen Mythos der Immaterialität der Computertechnologie“
medienästhetisch überzeugend herausarbeitet, ist Louis Hendersons
Kurzfilm All That Is Solid (2014). Der Film spielt in Ghana, das bis
1957 eine englische Kolonie war und bezeichnenderweise Goldküste
genannt wurde. Traurige Berühmtheit hat die weltgrößte
Schrottsammelstelle Agbogbloshie in Ghanas Hauptstadt Accra erlangt;
illegaler „e-waste“ aus Europa und den USA wird dort unter
erbärmlichsten Bedingungen zerlegt, das Plastik verbrannt, die
wertvollen Metalle herausgenommen und weiterverarbeitet. Diese
schrecklichen Bilder haben uns in den letzten Jahren immer wieder
heimgesucht. Auch Henderson verdrängt sie nicht, kostet sie aber
auch nicht aus, wie dies etwa die Fotografen Pieter Hugo oder Nyaba
Leon Ouedraogo machen, deren Müllbilder eine/n angesichts dieser
Katastrophe ziemlich ratlos zurücklassen. Mittelpunkt des Films ist
der Computerbildschirm des Künstlers, auf dem archivierte Bilder,
Filme, Texte, Google-Suchanfragen und -übersetzungen zu sehen sind:
„This film takes place in between a hard place, a hard drive, and an
imaginary, a soft space – the cloud that holds my data. And in the
soft grey matter, contained within the head.“ Die Materie, das ist
neben der Festplatte und dem Computerschrott offenbar auch das
Gehirn, zwar nur eine graue Masse, aber, um mit Jane Bennett zu
sprechen, „vibrierend“, etwas, das „all das Feste“ in Bewegung
setzen könnte.
Zunächst scrollt vor dem schemenhaften Hintergrund von Agbogbloshie
auf Wikipedia die koloniale Geschichte der Goldküste herunter, bis
sich ein Fenster mit einer dunklen Hand einblendet, auf der drei
kleine Goldnuggets liegen. Nächste Einstellung: Mise en abyme dieses
Fensters, mehrfach hintereinander reproduziert; dazu wird über das
Schmelzen von Goldbarren unter der Kontrolle der Engländer
gesprochen. Die heutige Zeit überlagert sich mit der kolonialen
Vergangenheit. Immer noch wird Gold – besagte Nuggets – verkauft,
immer noch geht das recht primitiv vor sich, wie die nachfolgenden
Bilder zeigen, wo Gold aus dem Sand herausgewaschen wird. Die Stimme
ist wütend, die Engländer hätten das Gold nach London
abtransportiert. In diese Mise en abyme aus Hand und Nuggets sowie
dem herumliegenden Schrott in Agbogbloshie blendet sich das Logo der
iCloud ein, der Computerscreen wird zum Screen eines iPhone bzw.
iPad – fröhliches Fotografieren und Herumschicken der Bilder. Dazu
das Voice-over eines Werbers, der über die Entstehungsidee der Cloud
erzählt und dass die meisten Menschen denken würden, die Cloud sei
eine Festplatte in den Wolken. Bildwechsel: kaputte Schaltungen,
Einblendung eines Werbefilms über die Datencenter von Google mit der
Feststellung, dass die Daten der Clouds in diesen Centern
gespeichert würden.
Henderson arbeitet mit filmischen Überlagerungen und
Parallelisierungen des Gegensätzlichen: der Werbefantasie mit der
materiellen Abfallrealität, der Kolonialzeit mit der heutigen oder
der rasanten Fahrt in eine leuchtende, 3D-animierte Goldmine und dem
abrupten Ankommen in einer dieser simplen Goldstaubminen heute. Auf
dem Bildschirm sind viele Fenster geöffnet. Die Unvereinbarkeiten
und Gegensätze stehen nebeneinander, die automatisierte
Desktop-Ästhetik rahmt das händische Schaffen in Afrika und
umgekehrt. Deutlich wird, dass Ghana – die ehemalige Goldküste –,
gerade weil ein Teil davon zur Schrottmine verkommen ist, immer noch
eine Goldmine für die Europäer ist. Es handelt sich um „a strange
system of recycling, a sort of reverse post-colonial mining whereby
the African is searching for metals in the materials of Europe“,
schreibt Louis Henderson im Trailer.
All That Is Solid lautet der Titel, womit auf die Materialität
dieses Schrotts wie auch der Serverfarmen der Cloud verwiesen wird.
Aber es ist auch ein Zitat aus dem Kommunistischen Manifest von Marx
und Engels: „Alles Stehende und Ständische verdampft, alles Heilige
wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre
Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen
anzusehen.“ Der Film endet mit Bildern von schwarzem Rauch
brennender Kabel in Agbogbloshie, Bildstörungen, immer undeutlicher
und abstrakter, bis nichts mehr zu sehen ist – verdampft vielleicht.
Hendersons offenes, gestörtes Ende bietet keine Perspektive im Sinne
der materialistischen Geschichtsauffassung, die die Überwindung des
Kapitalismus vor Augen hat. Und doch klingt etwas davon an, in
diesen zerbrochenen Materialien, diesem Rauch und diesen „Glitches“.
Mit der Verdrängung der Materialität der Daten, verursacht durch die
Verlagerung des Abfalls an Orte wie Agbogbloshie, sowie deren
unvermeidbarer Rückkehr befasst sich auch Behind the Smart World –
artistic strategies to deal with resurfacing data. Es ist dies ein
vielschichtiges, prozessual angelegtes Projekt von KairUs (Andreas
Zingerle und Linda Kronman) in Zusammenarbeit mit der Linzer
Netzwerkinitiative servus.at. Ausgangspunkt waren 22 ausrangierte
oder kaputte Festplatten, die KairUs in Agbogbloshie gekauft hatten.
Mittels Open-Source-Software zur Datenwiederherstellung gelang es
ihnen, den Inhalt von sechs Festplatten lesbar zu machen, und dies,
obwohl die meisten von den BesitzerInnen gelöscht worden waren.
Diese Daten bzw. Festplatten gaben sie zur Weiterverarbeitung an
neun KünstlerInnen weiter – Emöke Bada, Lilian Beidler, Joakim
Blattmann, Simon Krenn, Fabian Kühfuss, Marit Roland, Matthias
Urban, Michael Wirthig und Pim Zwier. Bei von ihnen organisierten
ArtLabs werden die jeweiligen Zwischenstände besprochen, die
Endprojekte sollen am 25. Mai im Rahmen des Art Meets Radical
Openness Festivals 2016 in Linz ausgestellt und diskutiert werden.
Behind the Smart World macht deutlich, dass Daten, ihre Verarbeitung
und Speicherung immer einer materiellen Grundlage wie beispielsweise
einer Festplatte bedürfen; dass Daten deswegen nicht einfach zum
Verschwinden gebracht werden können, sondern auch den Privatbereich
eminent tangieren. So fanden KairUs auf den beiden Festplatten, die
sie selbst weiterbearbeiteten, „sensibles“ Material. In einem Fall
konnte sogar der ehemalige Besitzer aus England samt aktueller
Adresse und Freundeskreis über Facebook und LinkedIn aufgespürt
werden. Im anderen Fall deuten die wiederkehrenden Fotografien von
zwei weißen weiblichen Webcam-Models mit unterschiedlichen Profilen
in verschiedenen Dating-Portalen sowie weitere Indizien auf
organisierte männliche Heiratsschwindler aus Afrika hin.
Dieses Zur-Disposition-Stellen der Materialität von Medien und Daten
ermöglicht es, auf spielerische Weise über deren Herkunft und
Weiterleben nachzudenken. Durch das gemeinsame Abarbeiten von
Schrott geht die Frage nach der Verantwortung unseres Umgangs mit
Computern und Daten gewissermaßen in Handeln über. Man realisiert,
dass die Wege und Transformationen von elektronischem Material auch
nach ihrem „Ableben“ nicht zu Ende sind. Schließlich sind die vielen
Metalle, die in Computern stecken, gar nicht abbaubar, sondern
werden uns überleben.10 Wie bei All That Is Solid bleiben auch in
Behind the Smart World die Referenzen an „e-waste“ und
Datenüberwachung nicht in einer Betroffenheitsrhetorik stecken,
vielmehr erscheinen sie als notwendiger Teil einer Spurensuche
bezüglich der Verwicklungen unserer Electronica. Diese blendet die
unangenehmen Ergebnisse der Recherche nicht aus, sondern sucht sie
mittels kreativer Strategien und unter Einbindung weiterer Akteure
zu bewältigen.
Mediengeologien
Der große „digital rubbish“ fällt jedoch nicht nur bei der
Entsorgung, sondern auch bei der Gewinnung und Verarbeitung der
Rohstoffe an. Besonders miniaturisierte Hochleistungselektronik
frisst besonders viele Rohstoffe.11 Neodym beispielsweise ist eine
gefragte „seltene Erde“, bei deren Abbau nicht nur – wie stets beim
Bergbau – Unmengen an Boden verschlissen werden, sondern auch
Radioaktivität entsteht.
Das Projekt Rare Earthenware (2015) von Unknown Fields Division hat
diesen Aspekt auf eindrückliche Weise materialisiert: Ausgestellt,
etwa zuletzt im Rahmen der Schau GLOBALE: Infosphäre am ZKM
Karlsruhe, sind drei unterschiedlich große Tonvasen, dazu läuft ein
Kurzfilm.12 Dieser verfolgt die Reise der KünstlerInnen zurück an
den Ursprung dieses Tons bzw. den Produktionsweg eines Computers von
seiner Ankunft im Containerhafen in England zurück bis zur
Tagebaumine in der Mongolei, wo ein Mann, nur mit einem Mundschutz
gesichert, im puren Gift hockt. Der Ton, aus dem die Vasen
modelliert sind, ist nichts anderes als der radioaktive Schlamm, der
dort anfällt, ihre Größen entsprechen der Menge an Schlamm, die bei
der Neodym-Extraktion für ein Smartphone, einen Laptop und eine
Batterie für ein Elektroauto anfällt. Das ästhetische Arrangement
basiert demnach auf dem Proportionalverhältnis von Dreck und
Radioaktivität. Während die Vasen in ihrer scheinbar statischen
Materialität leise vor sich hinstrahlen, besticht der Film durch
seinen Trick, nicht nur die Warengeschichte rückwärts laufen zu
lassen, sondern auch die darin gezeigten Menschen oder Wagen. Das
Rückwärtslaufen scheinbar natürlicher Produktionsvorgänge und die
Hervorkehrung des (Radio-)Aktiven der Materie machen deutlich, dass
die Zusammenhänge in der buchstäblichen Bedeutung des Worts
„pervers“ sind und anders als bisher ablaufen müssen.
Projekte wie dieses machen deutlich, dass sämtliche künstlichen bzw.
künstlerischen „neuen Materialitäten“ Denkfiguren sind. Es sind
medialisierte und materialisierte Verdichtungen von Realität und
ihrer Reflexion oder wie man auch sagen könnte, Koppelungen von
Theorie und Praxis. Sie stellen nicht nur die Frage nach der
Herkunft und Zukunft der in sie involvierten Materien und Waren,
sondern auch nach der in sie involvierten Wesen und Kräfte, das
heißt der menschlichen und nicht-menschlichen Akteure,
Produktivkräfte und Zeiten.
Doch solche artefaktischen Materialitäten entfalten ihre Wirkung nur
dann, wenn sie als Denkmöglichkeiten in Bezug auf unser aktuelles
Sein und nicht als Entwürfe neuer Lebensformen genommen werden.
Pinar Yoldas’ hybride Plastikwesen für die Installation An Ecosystem
of Excess (2014) können als solche akuten Verdichtungen des Jetzt
interpretiert werden. Entstanden sind diese Kreaturen im Zuge der
Auseinandersetzung mit dem Great Pacific Garbage Patch und den
Entdeckungen, die eine Ozeanforscherin machte: nämlich dass gewisse
mikrobiologische Systeme Adaptionen an die Plastikumgebung
vornehmen. Auch Yoldas’ bunte Wesen haben Plastikteile inkorporiert
und einen Metabolismus entwickelt, der produktiv mit Plastik umgeht.
Wer überleben will in einer lebensbedrohenden Umgebung, muss sich
anpassen. Das könnte die restriktive Lesart dieser Arbeit sein –
tatsächlich sind Mutation und Anpassung weder eine Frage der freien
Entscheidung noch im Rahmen der Lebenszeit eines komplizierteren
Lebewesens möglich. Interessanter erscheinen diese Organismen, wenn
wir sie als mögliche Konsequenz der aktuellen Entwicklung
betrachten: als Wesen, die wir einmal sein werden, in einer Welt, in
der alles zugemüllt ist.
Dass sich in einer Welt voller gigantischer Wünsche und
miniaturisierter Elektrogeräte die Möglichkeiten für alle vermindern
statt vergrößern, dies ist eine der großen Erkenntnisse, die die
Auseinandersetzung mit neuen Materialitäten bringt. Vielleicht
werden in Zukunft ein paar wenige ins All fliegen, doch die meisten
werden wohl dableiben und im eigenen Müll nach Gold suchen müssen.
Auch das ist Chemie.
1 Vgl. Erich Hörl (Hg.), Die technologische Bedingung. Berlin 2011. Zum Projekt Technosphere siehe www.hkw.de. Von „naturecultures“ spricht Donna Haraway und meint dabei deren Interferenzen und Dynamiken. Jussi Parikka verwendet den Begriff „medianatures“ (vgl. Parikka (Hg.), Medianatures. Living Books About Life 2011 sowie ders., A Geology of Media. Minneapolis 2015) und meint damit, dass Medien wesentlich aus Rohstoffen bzw. Mineralien bestehen.
2 Vgl. Parikka, A Geology of Media.
3 Timothy Morton, Zero Landscapes in den Zeiten der Hyperobjekte, in: GAM.07, Grazer Architektur Magazin, Zero Landscape, 2011, S. 81.
4 Roland Barthes, Mythen des Alltags. Frankfurt am Main 1964, S. 79.
5 Morton, Zero Landscapes, S. 82; vgl. auch Timothy Morton, Hyperobjects. Minneapolis 2013.
6 Morton, Zero Landscapes, S. 84.
7 Vgl. Jane Bennett, Vibrant Matter. A Political Ecology of Things. Durham 2010 sowie Parikka, A Geology of Media.
8 Morton, Hyperobjects, S. 201.
9 Siehe dazu die erhellende, auch theoretisch fundierte Untersuchung von Jennifer Gabrys, Digital Rubbish: A Natural History of Electronics. Minnesota 2011.
10 KairUs verweisen in Bezug auf „Untödlichkeit“ auf Jussi Parikkas Begriff der „Zombie Media“. Dem Aspekt der Untödlichkeit etwa eines Smartphones geht auch das Schweizer Nationalfonds-Forschungsprojekt Times of Waste nach (Flavia Caviezel, Mirjam Bürgin, Anselm Caminada, Adrian Demleitner, Marion Mertens, Andreas Simon, Yvonne Volkart; www.ixdm.ch/portfolio/times-waste; 2015–2017). Ich möchte mich an dieser Stelle bei den KollegInnen für Erkenntnisse und Diskussionen danken, ohne die dieser Text nicht möglich gewesen wäre.
11 Vgl. dazu die Recherchen für Times of Waste.
12 Vgl. www.theguardian.com/environment/gallery/2015/apr/15/rare-earthenware-a-journey-to-the-toxic-source-of-luxury-goods.